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Texte

2018-2020, handgeschriebene
Texte abgetippt

Text ist eine der gängigsten Formen, um Wissen und Meinungen zu vermitteln. Zu einem Text gehört aber viel mehr als Buchstaben, Wörter und Sätze. Je nach Textsorte sind verschiedene Kriterien bedeutend.

Ich habe mich mit Poetry Slam und mit kurzen Gedankenskizzen befasst.

Poetry Slam

Slam-Texte sind meist rhythmische und performative Lyrik. Der Text kommt erst durch das Vortragen richtig zur Geltung. Die Stimme, Wortspiele, Geschwindigkeit, Reime und Pausen erwecken eine kurze Erzählung zum Leben. Ich setze mich in meinem Text mit der «Kieferorthopädie» auseinander. Ein fast unaussprechliches Wort, das nach einer Zusatzbehandlung schreit. Ich habe fünf Jahre lang drei verschiedene Zahnspangen getragen. Zahnarztbesuche habe ich nie gemocht.

Die Spange
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Die Spange

 

Ich klingle, trete ein. 

Der Duft ist pikant. Es riecht nach Sauberkeit und Arztgewand. 

Ich melde mich mit Namen, bin hier im Computer eingetragen. 

Man weist mich ins Wartezimmer. Ich warte im Zimmer. 
Warte im Zimmer. 

Warte im Zimmer. 

 

Dann endlich bin ich dran, höre schon von weitem den unangenehmen Klang. 

Die Bohrer, Schleifen, Wasserspritzer, die durch Münder flitzen. 

Ich lege mich auf die flache Liege. Liege da. Mein Kopf wird bewegt. 

Die Welt steht verkehrt.

Endlich kommt ER mit Hornbrille, buschigen Brauen und im weissen Kittel – 

genau wie in der Werbung für diese Zahnspülungsmittel.

 

Ich sperre mein Maul auf wie ein Gaul.

Die Zähne gefletscht, er mit Spiegel und Zange bewaffnet.

Greift zum Gerät, das er, wie mir scheint, zufällig auswählt. 

Gummihandschuhe stecken in mir. Kratzen, biegen, schleifen, schrauben fest, drehen los.

Metall in meiner Nase, meinen Ohren. Metall in meinem Mund. 

Da! Dort! Eisen, Kupfer, Stahl, Metall – überall!

Ich will’s nicht mehr, will aufstehen, davon rennen, den Mann in meinem Mund 

einen Idioten nennen.

 

Doch ich bleibe liegen, lasse ihn siegen.

 

Er fragt mich, ob ich’s aushalte, während er den Sauger einschaltet. 

Ich antworte gequält: „AHAA AS GAAHT“. 

Na dann, alles klar. 

Er beugt sich über mich, sein Blick ist starr. Er beginnt mit Saugen. 

Ich betrachte seine Augen. 

Blau, grün, grau, schön rund. Er starrt in meinen Schlund. 

Mein Zahnfleisch ist wund. Das Gerüst sitzt, ob es auch was nützt? 

Meine Zähne sind gefangen von grau glitzernden Stangen. 

Im Gefängnis ist es wüst, die Freiheit grüsst.

Sie sagt auf Wiedersehen, wir werden uns in zwei, drei Jahren wiedersehen.

 

Aufsitzen kann ich nun und so tun, als ob nichts wär, doch es schmerzt so sehr! 

„War doch gar nicht schlimm“, meint er nur. „Naja“, antworte ich stur. 

Er strahlt. Kein Wunder, wird ja auch gut bezahlt. 

Jedes Mal, wenn ich ihn besuche, seis nur für zwei Minuten, bekommt er gleich mehrere Hunderter Noten. 

Damit treibt er dann seine Spässe, alles nur wegen meiner Metallfresse. 

Ich schüttle ihm die Hand, bis zum nächsten Mal, weisses Gewand.

 

Nun endlich, nach mehr als zwei Jahren muss ich wieder in die Praxis fahren. 

Jetzt kommt sie raus, sagt er mir. Ich liege da, fahre mit der Zunge über meine glatten, glänzenden, glücklichen Zähne...

Doch die Freude währt nicht lange. 

Er sagt fröhlich. „ So, nun bekommen Sie eine Nachtspange!“.

Gedankenskizzen

Diese Texte sind unterwegs im Zug, im Tram oder beim Spazieren entstanden. Es geht mir darum, einen spontanen Gedankengang einzufangen und zu Papier zu bringen. Nicht alle Einfälle und Erkenntnisse habe ich zu Ende gedacht und abgeschlossen. Zentral ist viel mehr, eine Skizze, einen Anstoss oder eine Idee im Moment festzuhalten. Spannend sind auch die Veränderungen und Entwicklungen, die zwischen den Texten liegen, etwa über die Einsamkeit vor und während Corona.

Fan sein Teil 1&2
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Teil 1: Fan sein

 

Ich hasse Fan sein.

Fan sein macht mich dumm. 

Fan sein unterwirft mich.

Fan sein macht mich klein. 

Fan sein klaut mein Selbstbewusstsein.

Fan sein heisst jubeln, anhimmeln, vergöttern.

 

Ich hasse Fan sein.

Fan von etwas sein, schränkt ein.

Fan von einem Fussballclub.

Fan von einer Band.

Fan von einem Film, einem Buch, einer Marke, einem Lied.

Fan von einer Person.

 

Ich hasse Fan sein.

Fans sind Hooligans.

Fans, die grölen.

Fans sind Groupies.

Fans, die kreischen.

Fans sind blinde, fanatische, hyperaktive Wesen,

die einer Macht folgen, welche sie sich selbst überordnen.

 

Ich hasse Fan sein. 

Die Nazi waren Hitlerfan.

Das russische Volk war Stalinfan.

Junge Soldaten sind Fans vom Krieg.

Frauen müssen Fan ihrer Männer sein.

Fans sind zeitlose Kreaturen.

 

Ich hasse Fan sein.

 

Vielleicht habe ich einen Komplex, 

weil das Wort Fan so scheusslich klingt mit dem deutschgemachten «ä».

 

Ich hasse Fan sein.

Ich mag es, Dinge zu mögen.

 

Teil 2: Hassen

«Hassen ist ein grosses Wort», 

meint meine Freundin. 

«Hassen ist ein viel zu starkes Wort», 

sagt sie.

 

«Aber ich will Stärke ausdrücken. 

Ich liebe ja auch. Wer liebt darf auch hassen», 

sage ich.

 

«Nein, du sollst hassen aus deinem Wortschatz streichen.

Du sollst es nicht mehr sagen.

Du sollst nicht hassen»,

meint sie.

 

«Ich hasse Fan sein»,

antworte ich trotzig.

 

«Na gut, wenn es weiter nichts ist.»

Lebensphase

 

A steht für Alltag

B steht für Beruf-ung

C ist mein Charakter

D steht für Durcheinander

E für Erlebnis

F werde ich finden

G wird mir gelingen 

H braucht Halt

I insistiert gegen Gewalt

J jauchzt vor Freude

K kann mich mal

L kennt viele Leute

M Macht alles zur Qual

N nichts Neues

O oder doch?

P passt perfekt

Q stellt sich quer

R rollt hin und her

S alles stockt und steckt

T tummelt sich überall

U hier, im Universum und im All

V ist im Versteck

W ist dann mal weg

X existiert

Y phylosophiert

Z will zum Ziel

 

Wo bin ich?

 

 

 

8. August 2019

Gestern haben wir beide einen Olivenbaum gepflanzt.

Ich habe ihn mit Steinen umrahmt und die Erde rundherum zweimal mit Wasser durchtränkt. Jetzt braucht er Zeit. Viel Zeit.

Ich bin allein. Das Nichts um mich herum ist gross. 

Gesprächsfetzen, Gesichter, Liedtexte und Melodien durchbrechen es. Einsamkeit ist gewöhnungsbedürftig und braucht Raum und Zeit. 

Genau wie ein Olivenbaum. 

Mir ebendies zu nehmen, ist nicht leicht. Ich verbaue meinen Raum und verbrauche meine Zeit. Ich lasse der Einsamkeit und dem Alleinsein wenig, viel zu wenig Platz. Ich mache Sachen nur damit ich andere nicht machen muss und damit kein Loch entsteht in das sich Einsamkeit einnisten könnte. 

Jetzt hat es sich aber einen Platz ergattert und drückt alles andere weg. Es will sich ausbreiten und will Macht gewinnen. Ich glaube, das lasse ich nicht zu. Ich dränge es spätestens morgen wieder in sein Loch zurück und lasse es ein Löchchen werden. 

Doch bis es soweit ist, bin ich allein. 

Ein Grashalm auf einer Wiese, ein Sandkorn am Strand, ein Stern im Himmel, ein Tropfen im Regen, eine Mücke im Schwarm, ein Plastik im Meer, ein Strahl in der Sonne, ein Like auf Facebook, ein Mensch auf der Welt. 

Allein unter all den anderen. Ein Nichts in noch weniger. Und doch lebe ich ein Leben, füge meinen Teil zum Ganzen bei. Es ist nicht egal, was ich wann, wie und wo tue. Trotz allem!

 

23. März 2020

 

Gelassenheit über Verlassen sein. 

Reden mit sich selbst und nicht mit denen, die mir sonst zuhören würden – oder auch nicht.

Die Chance nutzen, sie am Kragen packen und gleich einen Kuchen backen,

wofür ich die Zeit sonst nicht habe, reicht es an diesem Abend.

Das Virus ist in der Stadt, geht um, geht ein geht aus. 

Ich bleib zuhaus. Gehe nicht mehr raus.

Lebe trotzdem in Saus und Braus, denke ich mir.

Denke weiter.

Bis nach Indien in die Slums, bis nach Griechenland ins Flüchtlingscamp, bis mir vor Wut das Auge tränt.

Im Radio sagen sie, sie hätten Wasser zur Verfügung gestellt, 

schön, dass ihr das erkennt, dass es nötig war. Sowohl jetzt als auch schon vor mehreren Jahren.

Plötzlich denken die Menschen an die Menschen.

Plötzlich stellt die Regierung Wasser zur Verfügung.

Plötzlich fliegen die Leute nicht mehr.

Plötzlich ist es möglich.

Alles wegen einem winzigen Wicht.

23.März 2020
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08. August 2019
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Lebensphase
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© 2022 by Lena Sigrist.

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